Zum 1.10.2021 soll die eAU gesetzlich verbindlich ans Laufen kommen. Die Realität in den Arztpraxen spricht zwar dagegen, aber das Bundesministerium für Gesundheit, die GEMATIK und die Krankenkassen sind zuversichtlich, dass sie sich nicht von der Realität und den Problemen der Praxen beeindrucken lassen müssen.
Die IT-Abteilungsleiter aus acht Kassenärztlichen Vereinigungen haben in einem Brandbrief an die KBV gewarnt, dass zum Einführungszeitpunkt der eAU am 1.10.2021 aus technischen und organisatorischen Gründen ein Desaster in den Praxen droht, wenn ohne Übergangsmöglichkeiten Arztpraxen nur noch AUs auf elektronischem Weg erstellen dürfen. (ÄND, ÄrzteZeitung)
Technische Voraussetzungen für die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU)
- einen Anschluss an die Telematikinfrastruktur (TI), idealerweise mit einem Konnektor der die Komfortsignatur unterstützt (sogenanntes PTV4+-Update):
Zwischen 5 und 20 Prozent der Teilnehmer an der vertragsärztlichen Versorgung sind nicht angeschlossen. - den Anschluss an einen KIM-Dienst (Kommunikation im Gesundheitswesen):
Bisher sind erst ca. 6000 Praxen angeschlossen, 75.000 Praxen sollten es zum 1.10. sein! - einen elektronischen Arztausweis (eHBA), mindestens der Generation 2.0:
Erst ca. 41 % der Praxen haben bisher einen eHBA! - ein Update der Praxis-EDV für die eAU:
Erst 20 von 100 bis 120 Praxisverwaltungssystemen bieten das erforderliche Update für die eAU.
Natürlich war vor der bundesweiten Einführung bis zum 31.8.21 ein Feldtest geplant. Dieser beginnt nach Auskunft der Gematik jetzt aber frühestens am 20.8.. Und der Anschluss der Krankenkassen soll im September beginnen.
D.h. zum Beginn des 4. Quartals wird dann übergangslos und technisch völlig unausgereift eine bundesweite Änderung des Arbeitsablaufs in fast allen Arztpraxen angeordnet, die in ca. 60% bis 70% der Praxen gar nicht funktionieren kann. Deshalb fordern die IT-ler der KVen ein Verschiebung der eAU um mindestens ein Quartal:
„Wir brauchen dringend eine offizielle Erlaubnis für den Parallelbetrieb für mindestens das 4. Quartal 2021. D.h. es muss in Q4/21 offiziell erlaubt werden, alternativ Muster 1 bzw. analog dazu BFB (also das alte Verfahren) zu nutzen oder eAU. Ansonsten gibt es ein Chaos draußen in den Praxen.“
BMG, Gematik und Krankenkassen rechnen allerdings weiterhin mit einem pünktlichen Start der ePA, eine Verschiebung lehnt das BMG ab!
Nachdem es in der TI bisher nur das unspektakuläre Versichertendatenmanagement (VSDM) gab, das eRezept sich weiter verzögert und das Interesse der Versicherten selbst an der ePA und dem Notfalldatensatz (NFDM) sich im Promillebereich bewegt, kommt mit der eAU der Hammer: Laut Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) gehört es dann zu den Vertragspflichten eines Arztes die eAU zu nutzen. Nach Darstellung der KBV sei dann die Papier-AU nicht mehr gültig. Kleinigkeit am Rande: Oblag es bisher dem Patienten seiner KK die AU pünktlich zu übermitteln, ist nun der Arzt verantwortlich – bei der Ausstellung der AU bei Hausbesuchen spätestens bis zum Ende des nächsten Werktages!
Und da jetzt zum 1.10.21 ca. 70% der Arztpraxen gegen den BMV-Ä und gegen das SGB-V verstoßen müssen und natürlich zigtausende Patienten auf die pünktliche AU finanziell und versicherungsrechtlich angewiesen sind, ist der Druck im System gerade enorm, so dass nicht wenige Ärzte um ihre berufliche Existenz fürchten.
Um den Druck aber jetzt wieder ‚rauszunehmen:
- Natürlich wird das BMG keine Minute früher als unbedingt notwendig Fristen verschieben. Der Druck auf die Ärzte und das Gesundheitssystem insgesamt erscheint mir als Machtmittel durchaus gewollt.
Und auch an anderen Stellen wurde gerade von diesem Ministerium gerne „auf Sicht gefahren„: Wenn wir dann sehen, dass es nicht funktioniert, können wir immer noch etwas anderes verkünden … - „Für Praxen, denen die digitale Übermittlung des ab 01.10.2021 verpflichtend zu nutzenden digitalen Vordrucks e01 an die Krankenkassen nicht möglich ist, legt Anlage 2b zum Bundesmantelvertrag-Ärzte (BMV-Ä) Ausnahmen zur Nutzung des Papierausdrucks fest: Versicherte erhalten in dem Fall eine papiergebundene Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung mit den Ausfertigungen Krankenkasse, Versicherter und Arbeitgeber.“ BMG
- TI-Verweigerer zahlen weiterhin nur ihre Strafe von 2,5%, eine weitere Sanktionierung hierüber hinaus ist nicht vorgesehen.
(Wer bisher allerdings sich an die TI angeschlossen hat und die weiteren Voraussetzungen zur Befüllung der ePA und weiterer TI-Anwendungen jetzt nicht erfüllt, zahlt neu 1%!) - Grundsätzlich können Krankenkassen Sanktionen gegen Ärzte beantragen, die sich nicht an die vertragsärztlichen Pflichten halten. Und das könnte sogar bis zu dem befürchteten Zulassungsentzug gehen. Aber:
Dieses Procedere kann gut und gerne 5 Jahre dauern und auch kurz vor knapp mit dem Anschluss an die TI beendet werden. - Außerdem: Üblicherweise unterscheiden (die hier einzuschaltenden) Gerichte zwischen Haupt- und Nebenpflichten eines Vertrages. Und hier dürfte die Form der Übermittlung der Feststellung einer Arbeitsunfähigkeit (also ob auf Papier, auf einem Bierdeckel oder über ein Kabel) mit großer Sicherheit nur eine „Nebenpflicht“ sein, die keineswegs einen Zulassungsentzug rechtfertigt.
- Die Aussage (z.B. der KBV), die Papier-AU allein sei dann nicht mehr gültig, ist natürlich viel zu pauschal. Dass die Bescheinigung einer AU nicht in der gewünschten Übtertragungsform geschieht, dürfte eine KK kaum von ihrer Pflicht, Krankengeld zahlen zu müssen, befreien.
Es empfiehlt sich also dringend, hier ruhiges Blut zu bewahren. Die eAU sollte ja schon längst zum 1.1.21 flächendeckend eingeführt werden, auch alle anderen Anwendungen verzögern sich immer wieder. Eigentlich sollte die TI sogar schon 2006 laufen und mit TI 2.0 werden bald die Konnektoren doch wieder abgeschafft. Auch wenn Milliardensummen in die TI gesteckt werden und der personelle Aufwand in allen Bereichen immens ist, scheint die Umsetzung der Pläne immer wieder an einem Faktor zu scheitern: an der Realität!
Ich finde es nur schade um das Geld. Obwohl: Es ist ja nicht weg, es haben nur andere …
Viele Grüße
L. Seite
Nachtrag 1: Ein ärztlicher Kollege empfiehlt rein pragmatisch einen Stempel:
„Gemäß BMV Anl. 2 in Papierform“
Weil wenn aus technischen Gründen eine eAU nicht möglich ist, hat die Papierform Gültigkeit. Gilt auch für das eRp.
Nachtrag 2: Auch in der Bundesärztekammer macht sich der Realitätsverlust breit und sie twittert:
Allerdings scheinen hier weniger psychopathologische Aspekte sondern eher Interessensverquickungen eine Rolle zu spielen:
Als Aufsichtsratvorsitzender des ZTG (Zentrum für Telematik und Telemedizin GmbH) wurde jüngst der Hauptgeschäftsführer der ÄKWL, Dr.phil. Michael Schwarzenau bestätigt. Im Westfälischen Ärzteblatt 8/21 gibt es folgerichtig einen zweiseitigen Artikel „Einführung des eRezepts steht bevor – Nutzung ist ab Januar 2022 für Vertragsärztinnen und -ärzte verpflichtend“. (Änd)
Und hier findet sich im Westfälischen Ärzteblatt ein Interview des ZTGs mit der Ärztekammer Westfalen-Lippe: Potenziale besser ausschöpfen. Digitalisierung im Gesundheitswesen: Hintergrundgespräch mit Dr. phil. Michael Schwarzenau
Noch einmal: Der Hauptgeschäftsführer der ÄKWL ist gleichzeitig der Aufsichtsratvorsitzender des ZTG und gibt „sich“ ein Interview über Digitalisierung. Ich weiß nicht, ob die Verquickungen auf Ebene der BÄK ähnlich sind, aber: Doch, diese Dreistigkeiten wundern mich immer noch …
Sehr gut geschrieben und zusammengefasst zur eAU! Danke L. Seite!
Die KBV hat zwischenzeitlich eine „flexibelere Lösung“ ausgehandelt: Die kürzlich vereinbarte Übergangsregelung sieht deshalb vor, dass Praxen nicht sofort ab Quartalswechsel die elektronische Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung (eAU) nutzen müssen.
Stattdessen können Ärztinnen und Ärzte im Laufe des vierten Quartals auf das neue Verfahren umstellen. … Bis zur Umstellung stellen sie wie bisher Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen auf Papier mit dem bekannten Muster 1 aus. https://www.kbv.de/html/1150_54018.php
Also der 1.10. bleibt, aber es ist doch eher der 1.1.2022 und wenn es dann noch nicht klappt …
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